„… an den Bewusstseinsströmen dritter teilhaben.“

Max Dax, langjähriger Herausgeber und Chefredakteur der Musikzeitschrift Spex, der Magazine Alert und Electronic Beats sowie der im Suhrkamp Verlag publizierten 30 Gespräche und mit einem ausführlichen Interview mit dem amerikanischen Musiker und Songschreiber Jeffrey Lee Pierce auch Beiträger des Online Magazins Tuxamoon, hat mit „Dissonanz“ seinen ersten Roman vorgelegt. Das Buch – der Roman – thematisiert in tagebuchähnlicher Form die Jahre 2009 bis 2010.

Viel ist schon über dieses Buch geschrieben worden, und es hat ein paar Stimmen gegeben, die sich recht wohlmeinend über das Buch geäußert haben. So hat Alexander Kluge dem Autor Max Dax bescheinigt, den Roman seiner Generation geschrieben zu haben, und schiebt als Begründung nach: „weil er seiner Generation zutiefst misstraut“. Für diese Annahme gibt es im Buch allerdings keine Anhaltspunkte. Noch einfacher hat es sich Kristof Schreuf gemacht mit seinem prägnanten Diktum, Max Dax schreibe, „wie Jackson Pollock gemalt hat“. Der Vergleich ist – um es mit Tocotronic zu sagen – „eher schief als eben“ und nur hinsichtlich der Form, in Bezug darauf, dass es bei diesem Buch keinen eigentlichen Anfang und kein Ende geben müsste, nachvollziehbar. Der Deutschlandfunk hat „Dissonanz“ ein Angeberbuch im Pop Tonfall genannt, das eine bizarre, hippe Parallelwelt beschreibe und keinen Humor und keine Wärme ausstrahle. 

Es fängt an mit einem Zitat. Einem Zitat aus einem Song des 1996 viel zu früh verstorbenen amerikanischen Musikers Jeffrey Lee Pierce, Gründer, Sänger und Gitarrist der Band Gun Club. Das Zitat ist dem Song „Go Tell The Mountain“ entnommen; es lautet: „I hate to see / That evening sun go down / I hate to see / That evening sun go down / In the freezing rain“ und beschreibt die Grunddisposition des Buches: Es ist eisig in der Welt des Erfolgsdrucks.

Das austauschbare Jahr beginnt am Dienstag, dem 16. Juni 2009 und endet am Mittwoch, dem 16. Juni 2010. Der Inhalt ist nicht neu; es ist, wie der Leser am Ende des Buches erfahren wird, die Version 2.0 des 2009 und 2010 auf www.spex.de veröffentlichten blogs. Nur: in der gedruckten Version ist die Form eine andere, ein Roman, der mit einem Paris Aufenthalt beginnt. Geschildert werden Erlebnisse, Fahrten mit dem Taxi, ein Mittagessen mit Thomas Schoenberger, dazwischen eingestreut: Rezepte.

Ein paar Seiten später liest man eine feine, romantische Meditation über einen weißen Berliner Stadtfuchs, die wohl nicht von ungefähr an „Die Krähe“ aus Franz Schuberts „Winterreise“ erinnert.

Es gibt eine Menge Zitate in diesem Buch, die kursiv gedruckten Passagen, aber lediglich ungefähre und manchmal gar keine Hinweise darauf, woraus diese Zitate entnommen sind. Dienstag, der 23. Juni 2009 ist vorgemerkt für ein Interview mit dem Künstlerpaar Gilbert & George. Zwei Tage später diskutiert der Autor mit Neil Tennant von den Pet Shop Boys und Wolfgang Tillmans im Catering-Bereich des Tempodrom den Tod von Michael Jackson. Ein paar Seiten später liest man eine feine, romantische Meditation über einen weißen Berliner Stadtfuchs, die wohl nicht von ungefähr an „Die Krähe“ aus Franz Schuberts „Winterreise“ erinnert, auch wenn Szenerie und Jahreszeit ganz anders beschaffen sind: „Erst neulich begegnete auch ich einem weißen Fuchs in der warmen Nacht. Er trottete etwa zwei Kilometer schweigend neben mir her, dann huschte er Höhe Moritzplatz ins Gebüsch. Ich bin mir sicher: die Berliner Stadtfüchse sind die Träume schlafender Menschen. Träumen die Menschen von jemandem, schaut der Fuchs bei diesem vorbei und leistet ihm Gesellschaft.“

Der Autor und mit ihm der Leser begegnen dem Stadtfuchs mehrmals. Auch trifft man alte Bekannte wieder, so Ted Gaier von den Goldenen Zitronen auf S. 42. Der Titel der damals aktuellen LP „Die Entstehung der Nacht“ ist auslösendes Moment für ein Interview mit Ted Gaier. Dann folgen Gedanken an Reiseaufenthalte in Los Angeles, Interviews mit Autoren und Musikern, lauter Trouvaillen, aufgereihte, glänzende Perlen, wie der Verweis auf das großartige Buch Ein Gespräch / Una discussione – Joseph Beuys, Jannis Kounellis, Anselm Kiefer, Enzo Cucchi auf  S. 77 unten, oder wenig später, auf S. 82 ein wunderschöner Auszug aus einem Interview, das Max Dax mit Juliette Gréco in ihrem Haus bei St. Tropéz gemacht hat. Nicht ganz so schön und viel zu spröde geriet das Interview mit Yoko Ono im Hotel Kempinski am Kurfürstendamm, über das man auf S. 85 nachlesen kann. Albert Oehlen, Nana Mouskouri, Geoff Barrow von Portishead, Claude Lanzmann und, auf S. 50, Jochen Distelmeyer und viele andere sind die Gesprächspartner von Max Dax. Man mag das für namedropping halten, das ist es aber nicht. Vielmehr werden diejenigen Persönlichkeiten genannt, die uns – erlebt, erinnert oder imaginiert – unseren alltäglichen Kosmos bereichern und in deren Denken wir von uns einmal Gedachtes wiederzufinden glauben in dem vordringlichen Wunsch, wie es der Autor selber formuliert, „an den Bewusstseinsströmen dritter teilzuhaben“.

Isabelle Graw, die Herausgeberin der Texte zur Kunst, hat Max Dax in einer im Buch zitierten Passage vorgeworfen, dass er in den von ihm geführten Interviews keine Fragestellung habe, die er systematisch verfolge. Er trete seinen Interviewpartnern „voller Bewunderung, ja geradezu ehrfürchtig und erschreckend devot entgegen“. Und Graw fragt, „ob die Zeit, da es noch zu den zivilgesellschaftlichen Tugenden gehörte, Kritik öffentlich vorzubringen und Kontroversen anzuzetteln, unwiderruflich vorbei“ sei.

Es steckt viel zu viel drin in dem Buch, als dass man es kurz abhandeln könnte.

Es steckt viel zu viel drin in dem Buch, als dass man es kurz abhandeln könnte. Sein Verfasser setzt vieles voraus und erläutert fast nichts. Ein Beispiel von S. 123 f., wo es heißt: „Noch am Nachmittag war der Waggon der ersten Klasse durch die grünen Hügel Schleswig-Holsteins in Richtung Kiel gerollt und gab einen Panoramablick auf saftige Wiesen und Kühe in Halbtrauer frei.“ Muss man wissen, dass es sich bei „Kühe in Halbtrauer“ um den Titel einer Erzählung von Arno Schmidt aus dem Jahr 1961 handelt?

Namen von ehemaligen Spex-Autorinnen und -Autoren kommen einem in den Sinn wie Andreas Banaski, Diedrich Diederichsen und Detlef „Ewald“ Diederichsen, Olaf Dante Marx, Clara Drechsler, Kerstin Grether, Jutta Koether oder der des kürzlich verstorbenen, ehemaligen SoundS-Redakteurs Hans „Basement Jack“ Keller, um nur einige wenige zu nennen. Wie bei ihnen, so geht es auch hier vordergründig nicht so sehr darum, in der Art eines Fachblattes über Künstler und Musik zu informieren. Vielmehr wird auf einer höheren Ebene an einem Popdiskurs weitergeschrieben, der, wie die Spex, immer auch den sozialen und politischen Mehrwert im Blick hat und auf Geheimwissen und vor allem auf Haltung setzt.

Short Cuts. Es gibt keine Haupt- oder Nebenstränge in diesem Roman. Stattdessen: Wahrheit durch Wiederholung. Vordringen durch Beharrlichkeit. Vereinzelung durch Zergrübelung. Der Autor, der bisweilen in der dritten Person von sich spricht oder sich nach einem Song von David Bowies 1977er „Heroes“ Album V2 Schneider nennt, beschreibt sein eigenes Werk als eine Fuge, eine nach Gehör verfasste Komposition, die es vermag, als ein schneller Strom der Ereignisse den Hörer mitzureißen. Es geht aber in diesem Buch auch darum, Dinge und Personen, die unwiederbringlich verloren sind, in Erinnerung zu rufen resp. ihnen ihren Platz zuzuweisen, so die vom Autor favorisierten Restaurants, die Zeitschrift Spex oder Juliette Gréco und Claude Lanzmann.

Mit „Dissonanz“ hat Max Dax nach eigenem Bekunden den Versuch unternommen, über das Genre Tagebuch ein Ritual oder eine Meditation zu etablieren, um Ähnlichkeiten im Denken der Anderen zu entdecken und zu benennen und um in parallele Möglichkeiten der Wahrnehmung einzudringen. Darüber hinaus ist das Buch der Versuch, die Wirklichkeit der Träume ganz empathisch ernst zu nehmen. Wie im Traum sind alle im Buch genannten Dinge gleichwertig und gleich wichtig. Dax gesteht, dass er den Ursprungstext um ein Drittel gekürzt, aber keine im Rückblick seherischen Sätze in das Buch hineingeschrieben habe. Sein Bekenntnis lautet: „Ich will nicht clever sein. Ich bin tatsächlich eher ambitionslos. Ich will nur beschreiben, was ich sehe, und was sich mir vor meinen Augen entblättert. Ich will den Alltag beschreiben, den Trott, den abgestumpften Gang des Lebens. Hierfür ist es wichtig, absolut aufrichtig zu sein, gerade auch in der Fiktion des Märchens. Von mir aus wird ein Buch dann eines Tages zum Mahnmal oder zum Denkmal, aber das war nicht meine Intention. Ich wollte nur genau beobachten.“ Das ist ihm unbestritten geglückt.

Was bleibt? Viel Recherche-Arbeit nach all den Namen, Orten, Restaurants und Einrichtungen, die in diesem Roman Erwähnung finden, wenn man manches genauer wissen möchte. Nicht erst nach der Lektüre des Buches ist man gewillt, noch einmal alle Spex Hefte aus der Zeit der Herausgeberschaft von Max Dax durchzusehen und sich von der Lektüre der Artikel anregen zu lassen. Eine Empfehlung über den Roman „Dissonanz“ hinaus sind die ausführlichen Interviews, die Max Dax nicht zuletzt mit David Bowie und Iggy Pop geführt hat und die hier  

https://www.waahr.de/texte/david-bowie

https://www.waahr.de/texte/iggy-pop

abrufbar sind.

Das, was aus einem Gespräch von Max Dax mit Alexander Kluge Eingang gefunden hat in den Roman, könnte auch das Charakteristikum resp. ein Resümee des Buches „Dissonanz“ sein: „Warum sind Ihre Geschichten so kurz, warum so verdichtet, warum werden ganze Familiengeschichten auf bloß fünf Seiten erzählt?“ – „Das ist das Merkmal des 21. Jahrhunderts: Es geschieht so ungeheuer vieles zur gleichen Zeit. Die Literatur muss mit ihren Erzählungen versuchen, diese Vielfalt, diese Dynamik, diese Gleichzeitigkeit zu beschreiben.“

Max Dax, Dissonanz. Ein austauschbares Jahr.

Roman, kartoniert. Leipzig: Merve, 2021.

375 Seiten. 28,- €.

Zeitgleich erschien ein Interview mit Max Dax in der ND.

Dr. Eckhard Fürlus, geboren in Jever, Friesland. Studium der Philosophie und der Theologie an der Freien Universität, der Technischen Universität und der Kirchlichen Hochschule in Berlin. Mitarbeiter der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz SMPK, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes DAAD, der Akademie der Künste und des Landesmuseums Berlinische Galerie. Von 1993 bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Berlinischen Galerie. 2006 künstlerischer/wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien zur Assistenz von Prof. Siegfried Zielinski im Bereich Archäologie / Variantologie der Medien; seit 2007 Dozent an der Universität der Künste Berlin (UdK), Institut für zeitbasierte Medien.

TUXAMOON wurde 2009 von UnLtdWorld, England für den BRIC Award in der Kategorie “The Global Impact Award” nominiert.