„Die Hölle ist es, an die eigene Vergangenheit gekettet zu sein“

Am 14. September dieses Jahres jährte sich zum 700. Mal der Todestag des Dichters und Philosophen Dante Alighieri. Es ist zugleich der 700. Jahrestag des Erscheinens seines bedeutendsten Werkes, der „Commedia“. Beide Ereignisse fallen in das Jahr 1321. Der Göttinger Wallstein Verlag würdigt den berühmten Dichter mit einer Sammlung von Kommentaren sehr unterschiedlicher Autorinnen und Autoren zu von ihnen ausgesuchten Textpassagen.

Die hier zusammengestellten Auszüge und Gedankensplitter der Verfasser sind nicht neu. Über den Sommer verteilt, waren sie auf den Feuilletonseiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen. Hier sind sie in der Folge ihres Erscheinens in Dantes „Commedia“ nach Inferno, Purgatorio und Paradiso angeordnet. Dabei ist bemerkenswert, dass sich 31 Autoren sich mit der Hölle, 12 mit dem Läuterungsberg und ebenfalls 12 mit dem Paradies befassen.

In einem Vorwort stellen die Herausgeberin des Buches, Birte Förster, und Jürgen Kaube, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, fest, dass Dante zwar „weltberühmt, aber unbekannt zugleich“ sei. Viele Schriftsteller hätten sich auf ihn und „Die Göttliche Komödie“ bezogen; das Buch jedoch sei aufgrund des darin enthaltenen umfassenden Wissens seiner Zeit so sehr geprägt, dass es für ein großes Lesepublikum nicht getaugt hätte. „Ohne Fußnoten“, schreibt die Herausgeberin, „erschließt es sich kaum.“ Wie sehr die „Commedia“ und des Dichters wirkliches Leben miteinander verschränkt sind, macht Birte Förster auf den ersten Seiten anschaulich. Nachdem Dante 1302 sowohl sein politisches Amt, Ansehen und Vermögen verloren hatte, war er gezwungen, seine Heimatstadt Florenz zu verlassen und im Exil zu leben. So ist der Wald, in dem Dante sich zu Beginn der „Commedia“ befindet, „ein Symbol der Selbstverlorenheit, bitter wie der Tod und so schauderhaft, dass noch die Erinnerung daran Angstgefühle auslöst.“ Hier trifft Dante auf den Dichter Vergil; mit ihm begibt er sich auf die Reise von der Hölle über den Läuterungsberg zum Paradies.

Birte Förster und Jürgen Kaube gehen dann ein auf die Wirkungsgeschichte Dantes von der ersten Werkausgabe 1739 bis zu dem Zeitpunkt, wo Dante von der italienischen Nationalbewegung neu entdeckt wurde, und sie erwähnen auch die Übersetzungen der „Commedia“ Schellings und der Brüder Schlegel. Auf Stefan Georges Übertragungen der „Göttlichen Komödie“ – „ein unpolitischer Dante“ – und auf die Übersetzung Rudolf Borchardts in ein neuartiges Deutsch gehen sie nicht näher ein.

Darauf folgt eine „Deutsche Annäherung an Dantes Meisterwerk“ des Romanisten Karlheinz Stierle. Dieser streicht heraus, welche Schwierigkeiten bei der Übersetzung entstehen, und formuliert es so: „Gerade der Übersetzer, der sich in den Dienst des vom Ruhm in Bewegung gesetzten Verlangens nach Teilhabe stellt, steht vor einer fast unlösbaren Aufgabe. Er muss das poetische Werk aus seiner Sprache und seiner Zeit ausbürgern und in die eigene Sprache und Zeit einbürgern.“ Bei einem Werk von der Sinn-, Sprach- und Anschauungsdichte sowie der Gestaltungsmächtigkeit der „Commedia“ könne dies nur eine mission impossible sein kann. Stefan George hatte in einer kurzen Einleitung seiner Übertragungen, erschienen 1912 im Verlag Georg Bondi, festgestellt: „Der verfasser dieser übertragungen dachte nie an einen vollständigen umguss der Göttlichen Komödie: dazu hält er ein menschliches wirkungsleben kaum für ausreichend.“ Für Stierle ist die Fragment gebliebene Übersetzung Georges allerdings ein „Machwerk verquaster Pseudopoesie“, die mit Dante „nichts zu tun“ hat. Borchardts Übersetzung veranschaulicht nach Stierle die Ferne des Originals und macht „die Fremdheit von Dantes Dichtung für den gegenwärtigen Leser sinnfällig“. Eine Übersetzung, behauptet Stierle, kann nie den Ruhm einlösen, der sich um ein Werk gebildet hat, aber sie kann ihm neue Energien zuführen. Sein Fazit am Ende der „Annäherung“ lautet, dass es die Übersetzungen seien, die Dante zu einem Bürger Europas und der Welt gemacht haben.

Hier beginnen die 55 Beiträge der Autorinnen und Autoren, Texte, die, ausgehend von den von ihnen ausgesuchten Auszügen, manchmal drei oder vier, selten zwei Versen, sich auf zumeist zweieinhalb bis drei Seiten erstrecken. Dantes Verse stehen gegenüber auf der linken Seite, oben in altitalienischer bzw. toskanischer Sprache, darunter in der deutschen Übersetzung von Philaletes, (König Johann von Sachsen), Karl Witte, Karl Streckfuß, Richard Zoozmann, Hermann Gmelin, Wilhelm G. Hertz, Karlheinz Stierle, Hartmut Köhler oder Kurt Flasch. Die beiden Beiträger Cecilie Hollberg und Alexander Heinemann übersetzen selbst.

Carlo Masala zeigt, wie sehr Dantes Haltung, sein Respekt gegenüber anderen und anders Denkenden, uns Heutigen helfen könnte, „die immer tiefer werdende gesellschaftliche Polarisierung im Diskurs zu fast allen Themen zu verringern“.

Inspiriert durch Dantes Verse spannen die Autorinnen und Autoren einen Bogen aus mit dem Text verbundenen privaten Erinnerungen bis hin zu textkritischen Untersuchungen, erinnern an „geistige und seelische Nahrung“, die Dantes „Commedia“ gewesen war in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur  (Gina Thomas); sie laden ein zu Exkursen in die Bilderwelt William Blakes (Andreas Rossmann) oder in die Vulkanlandschaft Islands (Berit Miriam Glanz), zu einer Jahrhunderte überspringenden Parallelbetrachtung von päpstlichen Rücktritten Coelestins und Benedikt XVI. (Hannes Hintermeier), zu Ausflügen in die Kinowelt (Maria Wiesner und Claudius Seidl), aber auch zu einem genaueren Hinhören auf die Klänge und Geräusche in dem von Dante beschriebenen Stoff (Birte Förster). Jan Wagner schreibt in seinem Beitrag „Lesende und Liebende“ von den großen Dante Bewunderern James Joyce und Samuel Beckett und gelangt darüber zu Francesca da Rimini und Paolo Malatesta, einem der berühmtesten Liebespaare der Kulturgeschichte. Wagner formuliert es so: „Der Verführung Francescas durch Paolo geht die Verführung beider durch die Lektüre voraus“, und er schließt einen Kalauer an: „aufs Blättern folgt das Entblättern“. Tilman Spreckelsen thematisiert Arno Schmidts unzureichende Dante Lektüre. Beeindruckend ist der nüchterne, auf den Text Dantes konzentrierte Blick des Philosophen Kurt Flasch, der, jeder frömmelnden Interpretation der Cantos abhold, den zur Verfügung stehenden Raum äußerst spannend zu füllen versteht, aber beileibe nicht geschwätzig wird. Wie ein Musiker oder Dirigent sich auf das bloße Notenmaterial beschränkt, geht Flasch von Dantes Text aus, zieht seine Schlüsse und gelangt zu überraschend neuen Ergebnissen und anderen Sichtweisen als frühere Kommentatoren. Für Durs Grünbein kommt die Lektüre der „Commedia“ einer langen Wanderung gleich, für die er sich im Verlangen nach Orientierung ein Mappenwerk wünscht, topographische Rekonstruktionen, von denen Sandro Botticellis Schnitt durch den Höllentrichter die bekannteste ist. Carlo Masala zeigt, wie sehr Dantes Haltung, sein Respekt gegenüber anderen und anders Denkenden, uns Heutigen helfen könnte, „die immer tiefer werdende gesellschaftliche Polarisierung im Diskurs zu fast allen Themen zu verringern“. Und Jürgen Kaube wirft am Ende seines Beitrags die Frage auf, wo die europäische Poesie ihren Ursprung habe und ob sie  mit dem okzitanischen Poeten Arnaut Daniel beginne, der von Dante verehrt wurde und den Ezra Pound für den größten Dichter hielt.

Zu den Beiträgern gehören etliche Redakteurinnen und Redakteure der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, aber es gibt unter ihnen auch eine Astrophysikerin, eine Bischöfin, ein Dichter, ein Historiker, eine Komponistin, ein Lyriker und Übersetzer sowie Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus unterschiedlichen Fachbereichen. Ausgehend von Dantes Text und sensibilisiert durch die Konzentration auf die von Ihnen selbst ausgesuchten Verse, teilen sie uns ihre Gedanken und Sichtweisen mit, und es gelingen Ihnen in diesem Buch die schönsten Assoziationen und wichtigsten Querverbindungen – Anregungen, die „Commedia“ Dantes zu lesen.

Dantes Verse. Herausgegeben von Birte Förster, mit zahlreichen Beiträgern. 

272 S., geb., Schutzumschlag mit Lesebändchen, 20 x 12 cm. ISBN 978-3-8353-5068-7. 24,00 €.

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Dr. Eckhard Fürlus, geboren in Jever, Friesland. Studium der Philosophie und der Theologie an der Freien Universität, der Technischen Universität und der Kirchlichen Hochschule in Berlin. Mitarbeiter der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz SMPK, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes DAAD, der Akademie der Künste und des Landesmuseums Berlinische Galerie. Von 1993 bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Berlinischen Galerie. 2006 künstlerischer/wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien zur Assistenz von Prof. Siegfried Zielinski im Bereich Archäologie / Variantologie der Medien; seit 2007 Dozent an der Universität der Künste Berlin (UdK), Institut für zeitbasierte Medien.

TUXAMOON wurde 2009 von UnLtdWorld, England für den BRIC Award in der Kategorie “The Global Impact Award” nominiert.